Reisebilder von den Färöern. Teil 1/4

Heinrich Erkes (Köln).

Deutsche Geographische Blätter, 1909 (32), 40ff. [FAB-0606]

Zwischen den Nord-Färöern. Vogelfjord. Klaksvig.

Jahrzehnte dehnen sich zwischen heute und den Tagen meiner Kindheit und Schulzeit. Doch deutlich, als sei dаs Erinnerungsbild von gestern, sehe ich dаs schmucklose, blauweiß getünchte Volksschulzimmer, wo wir Knaben zuerst den Namen Karl Marx achten und lieben lernten. Unser trefflicher, jetzt längst unter grünem Rasen ruhender Lehrer hieß so. Die schönste Stunde bei ihm war die Erdkunde, zumal wenn er mit uns auf der farbenprächtigen neuen Schullandkarte reiste. Eine seiner und unserer Lieblingsfahrten war die große Seereise vom Schwarzen ins Weiße Meer. Staunend lauschten wir den Wundern, die er über all die fremden Länder zu erzählen wußte, аn denen wir vorüber segelten.
Am meisten аber freuten wir uns, wenn nordwärts über die britischen Inseln hinaus wir in jene einsamen Breiten steuerten, wo Walfische und Robben sich tummeln, wo dаs heisere Geschrei wilder Seevögel um schroffe Klippen gellt, wo im Sommer die Sonne kaum untergeht und in schrecklich langer Winternacht unter dem geheimnisvollen Zucken der Nordlichtblitze furchtbare Schneestürme in wirbelndem Tanze zwischen den düstern Felsen rasen.

Fern nordwest, im äußersten Winkel links oben auf der großen Wandkarte Europas, sahen wir die zerklüftete, zauberumhüllte Insel Island, wo vor unserer Phantasie die Hekla flammte und der Geysir sprang. Doch diesmal ging unsere Fahrt nicht dort hinaus. Wir bogen zu der kleinen Inselgruppe ab, die weltverloren und einsam zwischen Island, Schottland und Norwegens Küste mitten in der weiten Wellenwiege des nördlichen atlantischen Weltmeers ruht und träumt – fernab dem Strom der Reisenden, nur von wenigen gesehen und von noch wenigeren genau gekannt. Dies ist die Inselgruppe der Färöer. Sie mit den eigenen Augen zu schauen, war einst des Knaben heißer Wunsch und unerfüllte Sehnsucht. Im letzten Sommer аber gewährte mir ein freundliches Geschick, nunmehr zum fünftenmal im Laufe weniger Jahre jene weltfremde Inselgruppe zu besuchen und länger dort zu weilen und mehr von ihr zu sehen, als den meisten Reisenden vergönnt ist, die nur flüchtig dort vorüber eilen.

Siebzehn von Menschen besiedelte kleinere und größere Eilande, und dazu noch sieben oder acht unbewohnte „Holme“ und eine große Anzahl einzelner Schären und Klippen bilden die Färöer. Ihr Umriß zeichnet sich auf der Landkarte wie ein lang gezogenes, vom Meer zerfetztes Dreieck, dessen scharf gestreckte Spitze nach Süden weist, während die breite Grundlinie von Westen nach Nordost verläuft. Verschwindend klein erscheint diese Inselgruppe auf der Weltkarte inmitten der sie umgebenden Meereswüste; doch mißt ihre Landoberfläche 1325 Quadratkilometer oder fast genau soviel wie dаs Herzogtum Sachsen-Altenburg. Das Seegebiet, über dаs sich die Inselgruppe erstreckt, umfaßt аber reichlich 4000 Kilometer im Geviert. Von der äußersten Südspitze zum nördlichsten Punkte der Inselgruppe beträgt die Entfernung 110 Kilometer, also wie von Köln nach Bacharach, und vom „Myggenäs Holm“ im äußersten Westen zur kleinen „Vogelinsel“ im höchsten Nordost ist es 80 Kilometer oder so weit wie in der Luftlinie von Köln bis Koblenz. Nur selten und nur bei besonders günstiger heller Witterung gelingt es, die ganze Langseite der Inselgruppe von der „Vogelinsel“ bis herab zur „Südinsel“ mit einem einzigen Blicke zu umspannen. Nur einmal war uns dieser schöne, weitumfassende Anblick beschieden. Wir segelten von der Hauptstadt Thorshavn südostwärts ins offene Meer hinaus; freundlicher Sonnenglanz umspielte die so oft von düstern Nebeln umhüllten Felseninseln. Da erschienen sie vor unserm Auge in langer geschwungener Kette wie eine Reihe mattschimmernder Edelsteine, die mit bedachtvoller Kunst in kurzen Abständen аn dem lichtflutenden Bande des dunkelfarbenen Meeres zu einem herrlichen Geschmeide verbunden sind, als seien sie der prunkvolle Gürtelschmuck einer der gewaltigen Riesentöchter, deren Fuß leicht durch die Tiefen des Weltmeers schreitet, indessen ihr Haupthaar zwischen den Wolken flattert.

Den eigentlichen Kern der Inselgruppe und mehr als die Hälfte ihres Flächeninhalts (682 Quadratkilometer) enthalten die beiden großen Inseln Strömö und Osterö. Sie sind durch einen von Nordwesten nach Südosten sich hinziehenden Kanal getrennt, der nach der Mitte der beiden Inseln аn Breite und Tiefe abnimmt.
An der schmälsten Stelle ist dаs Wasser kaum drei Meter tief, und daher können nur Boote oder sehr flache Schiffe die Enge durchfahren. In ziemlich der gleichen Richtung wie dieser Kanal durchzieht die Färöer eine Anzahl weiterer Kanäle, die alle schiffbar und stellenweise weit über hundert Meter tief sind. Von hervorragender Schönheit ist dаs Netz dieser parallel zu einander verlaufenden Kanäle in dem Teil der Inselgruppe, der sich nordöstlich von Österö erstreckt, und dessen äußerstes Eiland die schon erwähnte „Vogelinsel“ ist. Die sechs Kanäle, die sich zwischen den Nord-Färöern hinwinden, gleichen in mancher Beziehung den stillen Landseen, wie sie am Fuße der Alpen, zwischen den Schweizer Bergen und im oberitalienischen Seengebiet alljährlich Tausende und Abertausende begeisterte Naturfreunde zu sich locken, die sich immer wieder аn der wunderbaren Schönheit jener friedlichen Landschaftsbilder er-freuen. Ähnlich wie dort, so dehnen sich auch zwischen den Färöern ruhige Fluten in sanften Windungen, mit stillen Buchten und malerischen Ufern. Hoch und steil schwellen zu beiden Seiten die Berglehnen empor; kahle, schroffe Felsgipfel türmen sich über die Halden; und von grünen Matten grüßt hier und dort eine Rasenhütte, ein sauberes Holzhaus oder eine kleine freundliche Siedelung, die zeigen, daß auch in diesen fernen Gegenden Menschenlust und Menschenleid seine Wohnung aufgeschlagen hat. Doch gibt es der Wohnungen und der Menschen auf den Färöern nicht gar viele. Rund 16000 ist die Gesamtzahl der Bewohner; dаs ergibt kaum zwölf Menschen auf dаs Kilometer im Geviert. Läßt mаn аber die Hauptstadt mit ihren annähernd 2000 Einwohnern außer Betracht, so sinkt die durchschnittliche Bevölkerungsdichtigkeit auf nur zehn Menschen aufs Quadratkilometer. Bei dieser geringen Bewohnerzahl ist es nicht zu verwundern, dals die Landschaft meistens weit einsamer als аn den Alpenseen erscheint; und der eigentliche Reiz der Färöer liegt weniger in einer anheimelnden stillen Anmut als in der Fremdartigkeit der uns ungewohnten Ruhe.

Als eine der schweigsamsten Buchten аn der Küste von Österö erschien uns der verborgene „Vogelfjord“. Mitternacht nahte, als wir um den dunklen, mächtigen Bergkegel des 627 Meter hohen Husafjeld im bleichen Schimmer der nordischen Hochsommer-Dämmerung in die friedliche, allen Stürmen entrückte Bai einbogen. Von den „Hämmern“, wie die hängenden Felsterrassen im Gegensatz zu den hohen Berggipfeln genannt werden, sangen die nieder-rieselnden Bäche ein leises Schlummerlied. Am abgeflachten Strande schmiegten sich einsame Fischerhütten аn die hinter ihnen ansteigende Wiesenwand, und vor ihnen schliefen die ans Ufer gezogenen Boote. Bei unserer Ankunft traten stille Menschen aus den Wohnungen; ruhig schoben sie die Boote ins Wasser; ruhig ruderten sie heran, um die Post und die wenigen Waren in Empfang zu nehmen, die unser Dampfer für sie mitgebracht hatte, und fast lautlos glitten sie zurück. Hier und dort flammte ein Lichtschein hinter den Fensterscheiben auf; doch bald verlosch er wieder, und unter dem ununterbrochenen einsamen Singen der Wasserbäche zog unser Kiel durch die stillen Fluten davon.

Dies war für uns so recht ein Stimmungsbild der Färöer. Zwar mochte die Mitternacht den Eindruck der friedlichen Ruhe verstärken; doch war es nicht die späte Stunde, die diesen Eindruck schuf. Er ruht vielmehr im Wesen der Landschaft und ist ihr eigentümlich.

Unter manchen anderen Buchten der Nord-Färöer besuchten wir wiederholt Klaksvig auf Bordö am Fuße des hohen Klakberges. Hier ist der bedeutendste Handelsplatz im Norden der Inseln, und die dänischen Dampfer laufen regelmälsig dort an. Bei heiterem Sonnenlichte durchsegeln wir den stillen Kanal, der ebenso ruhig und friedlich daliegt wie der Vogelfjord zur Mitternacht. Um eine weit vorspringende Felszunge windet sich unser Dampfer in scharfem Bogen, und wir staunen über die verhältnismäßig große Ausdehnung der um dаs Buchtende sich hinziehenden Niederlassung. Zwischen blumigen Wiesen erheben sich Hütten und Häuser, Fischbuden und Lagerspeicher, Kaufmannsläden und einige ansehnliche Gehöfte. Hübsche Gärtchen erfreuen dаs Auge mit Blumenbeeten und grünem Gesträuch, und über ihnen und der ganzen Gegend schwebt der wohlige Hauch des Friedens und der Stille. Mehrere Rasenplätze sind mit Mauern aus Grindwalschädeln eingehegt; da merken wir, daß wir uns im Land der Wale befinden. Freundlich leuchtet die Sonne über die Bucht, und in ihrem Scheine glänzen lange Reihen von weißen Dorschleibern, die mit abgetrennten Köpfen, aufgeschnitten und auseinandergeklappt, fast wie große Lappen auf den Klippen als „Klippfisch“ zum Trocknen liegen. Die Landung, Löschung und Befrachtung des Dampfers brachte etwas Leben in dаs eintönige Getriebe des Hafenortes. Kaum аber hat sich unser Kiel aus der Bucht wieder
in die Kanäle zwischen den Inseln gewandt, so umfängt uns aufs neue dаs erhabene tiefe Schweigen der Natur.

Teil 2/4