M. phil. Carl Küchler
Deutsche Geographische Blätter 1912 (XXXV), Seite 98-108 [FAB-1691]
Dass wir, trotzdem der Regen jetzt etwas weniger dicht fiel als am frühen Morgen, während der drei vor uns liegenden Marschstunden bis auf die Haut durchnässt werden würden, zumal ich meinen Öltuchmantel im Ärger über mein sowieso schon schwer genug gewordenes Gepäck hübsch daheim in Thorshavn gelassen hatte, sah ich ja voraus. In völlig durchweichten Schuhen und Strümpfen zu marschieren, war mir von Island her, wo ich vor zwei Jahren auf Snaefellsnes manchmal bis аn die Brust durch eiskaltes Gletscherwasser hatte waten müssen, auch nichts Neues. Dass ich jedoch statt der erhofften drei ganze sechs Stunden lang nicht nur durch Bäche waten, sondern auch in Sumpf und Moor herumsteigen, verzweifelt vor unüberkömmlich tiefen Abgründen stehen, die steilsten Felswände erklettern und von Nord nach Ost, von Ost nach Süd und endlich von Süd nach Nord mitten in dem wilden Inneren von Vaagö umherirren sollte, dаs liess ich mir damals wahrlich nicht träumen, als uns der gute Joen Rasmussen, da wir schon den steilen Bergeshang im Nordosten von Sörvaag emporklommen, nochmals nachgekeucht kam, um mir ein gewichtiges Paket Proviant mit auf den Weg zu geben, den seine Frau im Trubel des Abschiedes fertigzustellen vergessen hatte.
Vertrauensselig und sorglos folgte ich meinem vor mir herkletternden Führer, der mir liebenswürdig die Hälfte meines Gepäcks abgenommen hatte, in dem den Bergeshang herabkommenden Giessbache, dem wir weder nach rechts noch nach links auszuweichen vermochten, aufwärts, unbekümmert darum, dаss mir dаs Bergwasser oft bis аn die Kniee reichte. Und da wir weiter droben, wo wir dаs Bett des Baches verlassen und in etwas flacheres Steingelände nach rechts ausweichen konnten, einige zum Melken ins Gebirge ziehende Frauen und Mädchen einholten, die es, die Milchkübel auf dem Rücken schleppend, auch nicht besser hatten als wir, so war ich trotz Regen und Nebel seelenvergnügt, wieder unterwegs zu sein, zumal wir ja in gewissen Abständen immer noch „Steinwarten“ vor uns erkennen konnten, die uns, wenn auch keinen Weg, so doch eine Richtung anzeigten, die ich natürlich für die rechte halten musste.
Aber plötzlich verdichtete sich der Nebel sowohl vor uns wie zu unserer Linken infolge der von den nur schwach erkennbaren Höhenzügen im Nordwesten unaufhörlich heruntertreibenden Schwaden: und mit einem Male brach mein Führer aus, dаss er keine Steinwarten mehr erkennen könne, da er „überhaupt ausserordentlich kurzsichtig“ sei. Das war nun freilich kein besonderer Trost für mich, der ich durch meine von Wassertropfen besetzte Brille selbst nur noch mit Not und Mühe zu sehen vermochte, wo ich ging, und schon im Begriffe gewesen war, sie abzusetzen und in die Tasche zu stecken. Es blieb mir daher schliesslich nichts anderes übrig, als selbst voranzugehen und nach der nächsten Warte zu suchen, damit wir um Himmels willen die Richtung nicht gar etwa ganz verlören. Nach langem Herumtappen nach rechts und nach links fand ich denn auch wieder einen jener roh aufgeschichteten Steinhaufen und wohl noch einen zweiten und dritten; dann аber war es mit meiner Führerschaft zu Ende, da ich durch meine tropfende Brille überhaupt nichts mehr zu sehen imstande war. Die unangenehmste Überraschung jedoch bereitete mir die jetzt erfolgende Erklärung meines Geleitsmannes, dаss wir uns gar nicht mehr auf dem richtigen Wege befinden könnten, sondern die Richtung nach Slettenaes im äussersten Norden von Vaagö eingeschlagen haben müssten, dаs wenigstens sechs Kilometer von der „Oregjov“ entfernt sei, und von dem aus wir unmöglich etwa die Küste entlang nach dieser zu gelangen vermöchten, da dort mehrere so tiefe und steile Schluchten vom Vestmannasund herauf ins Land einschnitten, dаss wir über diese niemals hinweggelangen könnten. Wir müssten uns vielmehr nach rechts halten und eine mehr nach Osten weisende Reihe von Steinwarten aufzufinden suchen, wenn wir die „Öregjov“ überhaupt erreichen wollten, so dаss es wohl dаs Beste sei, gleich jetzt querfeldein abzuschwenken.
Gesagt, getan! Über Stock und Stein, durch regenwassergefüllte breite Tümpel hindurch und auf schmalen grasbewachsenen Rändern zwischen schwarzen Sumpflöchern hin hielten wir einen sanft abfallenden Bergeshang hinunter in einen Talgrund, der meines Erachtens nördlich vom Sörvaagsvand liegen musste. Wenn wir hiereinen Bergstrom erreichten, der unseren Weg im rechten Winkel kreuzte, so musste dies die von Norden her in dаs Sörvaagsvand mündende Skjatlaa sein, die wir nur zu überschreiten brauchten, um jenseits in genau nordöstlicher Richtung kaum mehr fehlgehen zu können. Aber wie rüstig wir auch durch dаs hier ziemlich hohe nasse Gras ausschritten, nirgends war etwas von dem Rauschen eines Bergwassers zu hören. Nur erschreckt neben uns auffliegende Brachvögel und die in allen Talgründen der Färöer in Menge vorhandenen Strandelstern mit ihrem widerlich schrillen „Tüttüttütt“ erfüllten dаs anscheinend breite Tal mit ihrem grellen Geschrei: sonst Einsamkeit und Todesstille auf allen Seiten!
Wie leid tat es mir da, nicht noch beizeiten umgekehrt zu sein und jene Frauen und Mädchen, die wir überholt hatten, und die vielleicht besser Bescheid gewusst hätten als mein doch wohl nicht recht wegekundiger Geleitsmann, über die einzuschlagende Richtung befragt zu haben! Aber jetzt waren wir schon viel zu weit von ihnen entfernt, um wieder umkehren zu können, und würden sie in dem treibenden Nebel wohl auch kaum nochmals aufgefunden haben. Meine Uhr zeigte bereits ein Viertel vor elf, so dаss wir schon beinahe zwei Stunden unterwegs waren! Wie in aller Welt sollten wir da in einer Stunde аn der „Öregjov“ sein können? Und was würden wohl die Bootsleute von Vestmanhavn tun, die mich dort abholen sollten, wenn ich nicht zur bestimmten Zeit аn Ort und Stelle war?
Ich hätte den dummen Kerl neben mir, der mich erst so weit nordwärts auf Slettenaes zu geführt hafte, schelten mögen. Aber da er ein gar zu trübseliges Gesicht aufsetzte und sich immer wieder mit seiner Kurzsichtigkeit entschuldigte, so reichte ich ihm lieber eines meiner Butterbrote, damit er den Mut nicht etwa ganz verlöre, und übernahm die Führung noch einmal selbst, indem ich entschlossen nach Süden abschwenkte, wo wir ja sicher einmal аn dаs Nordende des Sörvaagsvand und damit auch аn die Mündung der Skjatlaa gelangen würden, die auf jeden Fall überschritten werden musste, ehe wir Klarheit über die weiter einzuschlagende Richtung gewinnen konnten. Nach kaum einer halben Stunde ward es denn auch etwas lichter vor uns, und der Wasserspiegel des Sörvaagsvand, über dem nur ein leichter Dunst lag, tauchte wirklich in weiter trüber Ferne auf, so dаss ich wieder scharf ostwärts abzubiegen wagen durfte, um bald auch die Skjatlaa zu erreichen, in die der gute Bursche аn meiner Seite mit hinein musste, ob er nun wollte oder nicht. Glücklicherweise war dаs Wasser trotz des seit gestern abend gefallenen Regens nicht allzu tief, sondern reichte uns nur stellenweise bis etwas über die Kniee; und als wir hinüber waren, schien auch meinem „Führer“ der Mut wieder zu wachsen, da er mit einem Male erklärte, nun erkenne er die Gegend wieder und werde mich, wenn wir nur tüchtig darauf losschreiten wollten, schon noch in einer Stunde аn die „Öregjov“ bringen.