Die westnorwegischen Mundarten vor 1350

Gustav Neckel

Vortrag zu Marius Hægstad: Vestnorske Maalføre in: Deutsche Literaturzeitung 1918 (39/26), Spalte 551-554 [FAB-2090]

Marius Hægstad [Prof. f. norweg. Volkssprache u. ihre Mundarten аn der Univ. Kristiania], Vestnorske Maalfore fyre 1350. II. Sudvestlandsk. 1. Rygjamaal. 2. Indre Sudvestlandsk. Færoymaal. Islandsk (1. u. 2. Teil). [Videnskapsselskapets Skrifter. II. hist.-filos. Kl. 1914 No. 5. 1915 No. 3. 1916 No. 4.] Kristiania, in Komm. bei Jacob Dybwad, 1915-17. 3 Bl. u. 127 S., IV u. 214 S., VII u. 190 S. gr. 8° mit 14 Schrifttafeln u. a. Facsimilia.

Die westnorwegischen Mundarten vor 1350, die den Gegenstand dieses monumentalen Werkes bilden, waren bislang, wie die alt-nordische Sprachgeographie überhaupt, sehr wenig bekannt. Das bedeutete nicht nur eine Lücke unseres Wissens, sondern hat auch zu schiefen Auffassungen und falschen Schlüssen geführt. Zwar hat die neuere Sprachwissenschaft längst erkannt, daß dаs altwestnordische Gebiet – d. i. Norwegen mit seinen Tochterländern, namentlich Island – zur Zeit unserer ältesten Hss. keine sprachliche Einheit mehr war. Aber die Unterschiede, die mаn bemerkte, faßte mаn als Unterschiede zwischen »Norwegisch« einerseits und »Isländisch« andererseits. Dabei war das, was mаn »norwegisch« nannte, im wesentlichen die Mundart von Drontheim, die in der Tat besonders reich in den alt-norwegischen Pergamenten vertreten ist (weil Drontheim als Sitz des Erzbischofs der kirchliche Mittelpunkt war), uud die sich ferner ziemlich augenfällig vom Altisländischen abhebt. Daß mаn im Westlande, um Bergen und Stavanger bis hinein nach Telemarken, wie heute, so schon im Mittelalter anders geredet hat als im Nord- und Ostlande, dies blieb lange verborgen, und damit zugleich die wichtige Tatsache, daß die südwestlichen Dialekte noch um 1300 dem Isländischen näher gestanden haben als dem Drontheimischen und Ostnorwegischen. Diese Tatsache ist deswegen so interessant, weil die Besiedelung Islands (um 900) zum allergrößten Teile eben vom südwestlichen Norwegen aus erfolgt ist. Natürlich ist dies der Grund für jene sprachlichen Gemeinsamkeiten. Diese stammen also aus der Zeit, wo die Isländer noch auf dem Festlande saßen. Nun ist ein Teil der einschlägigen Erscheinungen auf Island nicht in den ältesten Hss. bezeugt, sondern erst in etwas jüngeren (z. B. in dem um 1270 geschriebenen Codex der Eddalieder) und ist darum auf junge, datierbare Sonderentwicklungen zurückgeführt worden. Dies Verfahren ist also hinfällig. Die Verschiedenheiten der Sprache in den altisländischen Hss. können nicht alle chronologisch, sie müssen z. T. geographisch erklärt werden. Daraus folgen wiederum neue Grundsätze für die Herausgabe der Eddalieder: diese umzukleiden in die Laut- und Schriftform der älteren isländischen Pergamente, wie dies mehrere neuere Herausgeber getan haben, hat offenbar jetzt keinen Sinn mehr; und es ist gegenstandslos, sie in »der Sprache der Wikingzeit« darstellen zu wollen, weil es eine einheitliche westnordische Sprache – in dem Sinne, wie mаn dies voraussetzte schon zur Wikingzeit nicht gegeben hat.

Wenn somit die »altnordische« Philologie in manchem Betracht heute ein anderes Bild zeigt als vor zwanzig Jahren, so ist dаs eine Frucht der Arbeiten Hægstads. Der Kern dieser Arbeiten ist Urkunden- und Handschriftenuntersuchung. Die Merkmale der westnorwegischen Mundarten liegen verschüttet unter der drontheimischen und gemischten »Kanzlei«-Sprache, die die Hauptmasse der altnorwegischen Urkunden beherrschen. Sie waren überhaupt kaum zu finden ohne Hilfe der lebenden Dialekte. Der Verf. ist seinerzeit von der Beobachtung ausgegangen, daß eine Menge heutigen Sprachguts sich nicht aus dem normalen »Altnorwegisch« ableiten läßt. Er durchforschte die Urkundensammlung des Diplomatarium Norwegicum, dann auch ihre handschriftlichen Originale und fand, daß die Merkmale der heutigen Mundarten teilweise bereits in den ältesten Pergamenten vorliegen. Dies festzustellen war nur einem feinen und ausdauernden Beobachter möglich, denn es ist nur eine zerstreute und versteckte Minderzahl von Urkunden, die dafür in Betracht kommt, und die Lauterscheinungen, auf die es ankommt, liegen der Grenze des überhaupt mit dem lateinischen Alphabet zu Bezeichnenden mehr oder minder nahe, z. T so nahe, daß Zweifel entstehen können, ob es sich um Laute oder nur um Buchstaben handelt. Diese Schwierigkeiten hat H. im ganzen mit Glück überwunden, dank vor allem seiner ausgebreiteten lebendigen Kenntnis der lebenden Volkssprache. Einen kurzen, doch in allem Wesentlichen erschöpfenden Überblick über seine Ergebnisse gab er 1909 in dem von ihm und dem verstorbenen Sprachforscher Alf Torp gemeinsam bearbeiteten Gamalnorsk Ordbok. Das Hauptwerk, von dem 1906 die Einleitung, 1908 der erste Teil (Nordvestlandsk) erschien, breitet den Stoff in seiner Fülle vor uns aus, mit steten Verweisen auf die jüngeren (»mittelnorwegischen«) Quellen und auf die gegenwärtigen Verhältnisse, mit Erörterung unzähliger Einzelheiten, nicht bloß sprachlicher und quellenkritischer, sondern auch volkskundlicher Art, und mit vielen Sprachproben aus Hss. und aus mündlicher Überlieferung. Die einzelnen Mundarten werden nach Laut-, Formen- und Wörterbestand beschrieben; dаs Färöische, bei dem nach der Beschaffenheit der Quellen die lebende Sprache im Vordergrund steht, auch in bezug auf gewisse interessante Erscheinungen des Satzbaus. Die ganze Anlage des Werkes macht es zu einer wichtigen Fundgrube in erster Linie für den Sprachhistoriker. H. belegt Manches, was er nur für den nächsten, beschreibenden Zweck ausnutzt, was аber auch für die allgemeine altnordische Grammatik von Bedeutung ist, ohne bisher in diesem Sinne verwertet zu sein. Es hängt dies damit zusammen, daß der Verf. nicht eigentlich Sprachhistoriker, sondern Sprachgeograph ist. Er geht nicht den Veränderungen der Sprache nach, sondern ihrer Beständigkeit. Ohr und Auge sind bei ihm auf dаs Wiedererkennen eingestellt. Wie in der Vergangenheit die Gegenwart, so sucht er auch in den Teilen dаs Ganze, dаs eine große, alte Norwegen, dаs auch die Inselländer des Atlantik umfaßt, und so findet er im Färöischen neben den Merkmalen des Südwestnorwegischen nördlicher Lage dаs doppelte Akzentsystem des Skandinavischen Festlands, dаs mаn bisher dem Färöischen, ebenso wie dem Isländischen, abgesprochen hat – eins seiner schönsten Ergebnisse, dаs wir von einem so gründlichen Kenner gern ohne Bedenken annehmen, obgleich wir zu einer Nachprüfung außerstande sind.

Das Werk ist noch nicht abgeschlossen. Was noch aussteht, der altisländische Teil, ist in mehr als einer Hinsicht dаs wichtigste Stück des Ganzen. Hier führt, wie eingangs angedeutet, die H.sche Methode zu umwälzenden Folgerungen, die mit den Ergebnissen zusammentreffen, zu denen ich von anderer Seite gelangt bin. Man darf auf den Schlußband besonders gespannt sein. Hoffentlich beschert er uns auch eine abschließende Behandlung der Frage nach der Heimat der ältesten norwegisch-isländischen Predigt- und Legendentexte. Des Verf.s bewährte Arbeitskraft und Schaffenslust wird dafür sorgen, daß wir nicht zu lange zu harren brauchen. Ich sage es also nicht als Ansporn, wenn ich ihm versichere, daß er auch in Deutschland dankbare Leser hat, die den Geist, in dem er schafft – den Geist Jakob Grimms – nicht verkennen, und die auch seine Sprache anheimelt. Man hat bei H. mehr als bei andern lebenden Germanisten den Eindruck, daß der Mann und seine Sprache zusammengehören. In seiner Betrachtungsweise ist zugleich Persönlichkeit und Erdgeruch, und beides ist auch in seinem Norwegisch, mag es auch seit den »Kongebrev« von 1902 аn Anmut verloren haben – doch vielleicht ist dies die Täuschung eines Ausländers.

Heidelberg. Gustav Neckel.