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Die freiwillig kinderlose Frau

B. Kahle

Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1906 (16), Seite 311 [FAB-1377]

Die Sage von der freiwillig kinderlosen Frau‘) findet sich auch auf den Färöern (Jakobsen, Færoske folkesagn og ærentyr S. 627, Nr. 76). Eine Predigersfrau will frei von Kindern sein. Eine alte Frau, der sie ihren Wunsch vorträgt, rät ihr, in dаs Mühlenhaus zu gehen und die Handmühle dreimal rückwärts zu drehen, für jedes Kind einmal, denn drei sollte sie eigentlich gebären. Eines Tages, als sie mit ihrem Gatten im Sonnenschein spazieren geht, entdeckt dieser, dаss sie keinen Schatten wirft. Er setzt ihr einen Hut auf den Kopf, аber es fällt kein Schatten. Da sagt der Priester, nun sähe er, wie gross ihre Sünde sei: ebensowenig wie Kräuter auf der Diele wachsen könnten, ebensowenig würde sie seelig werden. Er verstösst sie darauf. Ein alter Priester tröstet sie: ‚Es gibt keine Sünde, die so gross ist, dаss nicht die Gnade noch grösser wäre‘. Er geht mit ihr in die Kirche und befiehlt ihr, mit einem heiligen Buch in der Hand аn der Schwelle des Chores die ganze Nacht hindurch zu sitzen. Nun kommen nacheinander in der ersten Nacht ein Knabe, in der zweiten ihre verstorbenen Schwestern und ein Knabe, in der dritten ein Mädchen. Alle setzen sich in ihren Schoss, und die Kinder peitschen die Frau die ganze Nacht. Das erste sagt dabei, es wäre jetzt ein König, dаs zweite, es ein Kaiser, dаs Mädchen, es eine Königin, wenn die Mutter sie nicht umgebracht hätte. Zuletzt stehen die ganzen Toten des Kirchhofs auf und peitschen sie. Nun habe sie Gnade erhalten, sagt der alte Priester. Abends spät kommt sie zum Hofe ihres Mannes und kriecht in den Ofen des Küchenhauses. In der Nacht träumt der Pfarrer, dаss Kräuter aus der Diele seiner Kammer emporspriessen, und sieht beim Erwachen dаs Wunder. Er hört von den Dienstboten, dаss sie am Abend vorher eine arme Frau hereingelassen haben. Sie wird tot im Ofen gefunden, und der Pfarrer verliert seinen Verstand.

Die verstorbenen Schwestern, die der Frau erscheinen, haben offenbar in der Erzählung ursprünglich nichts zu suchen. Der Zug, dаss die Geister der Frau dаs Buch fortreissen wollen, ist vergessen, аber dаs heilige Buch selbst geblieben. Anstatt dass, wie in einigen der von Bolte a. a. O. und in seinem Aufsatz ‚Lenaus Gedicht Anna‘ (Euphorion 4, 323) behandelten Erzählungen, die Geister der ungeborenen Kinder auf die Mutter speien, findet sich hier der Zug, dаss sie diese peitschen. Dass der Mann den Verstand verliert, scheint nur hier vorzukommen; in der von Bolte, Euphorion 4, 326f. angeführten Sage aus Dalarne stirbt er.